Nürnberger Nachrichten: »Mehr arme Familien – ›Kinder geistern morgens allein in der Wohnung herum‹«

Weit über ein Fünftel der Familien in Nürnberg lebt knapp an oder schon unter der Armutsgrenze. Als arm gilt hier zu Lande, wer nur bis zu 600 Euro im Monat zur Verfügung hat. Besonders Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene rutschen leicht ab. 17 Prozent der Kinder, die eingeschult werden, leben bereits in strenger Armut.

Brigitte Wellhöfer, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtrat und sozialpolitische Sprecherin, hat zu diesem Thema Experten zu einem Fachgespräch in die Villa Leon eingeladen, um von ihnen Auskunft zu bekommen, was die Stadt vorbeugend dagegen tun kann.

Georg Hopfengärtner vom Sozialreferat der Stadt und Autor des jüngsten Nürnberger Sozialberichts hat festgestellt, dass die Armut mit Kindern zunimmt. Er hält es deshalb für dringend geboten, die Kinderbetreuung »auf allen Ebenen« zu verbessern und zu erweitern. Dazu gehören auch der Ausbau von Ganztagesangeboten und eine längere Orientierungsphase statt früher Selektion an den Schulen. Er kündigte ein Programm zur Armutsprävention in der Stadt an.

Schuldenfalle Handy

Jesse Dykast, Mitarbeiter der Schuldner- und Insolvenzberatung der Iska in Nürnberg - sie ist auch für das Nürnberger Land zuständig - hält es für ein großes Manko, dass Armuts-Prävention in seiner Einrichtung vom Staat nicht finanziert wird. Dabei steige der Bedarf. »Im Jahr 2000 hatten wir 2700 Beratungen, im vergangenen Jahr waren es schon über 4000.« Für dringend notwendig hält er eine spezielle Einrichtung für Jugendliche. Bei ihnen steigt die Verschuldung merklich. Schuldenfalle Nummer eins ist das Handy. Dykast warnt: »Wer früh mit Schulden anfängt, legt sehr leicht eine steile Schulden-Karriere hin.«

Achim Mletzko, Vorsitzender des Kreisjugendrings (KJR), hat die Beobachtung gemacht, dass die Höhe der Handy-Rechnung abhängig ist vom Bildungsgrad des Nutzers. »Wer ein geringes Selbstwertgefühl hat, erliegt den Konsumverlockungen sehr schnell.« Verschärft wird die Situation dadurch, dass Banken versuchen, den Jugendlichen Kredite »hinterherzuwerfen«. Viele fallen auf den Slogans wie »3000 Euro, jetzt und sofort« herein. Ziel müsse es deshalb unter anderem sein, Jugendliche zu stärken durch Erlebnisse in der Gemeinschaft und sie gegebenenfalls aus schwierigen Familiensituationen öfter rauszuholen. Die Zahl der Kinder nehme zu, die früh aufstehen und allein durch die Wohnung geistern, weil sonst niemand mehr da ist. Das sei eine große seelische Belastung für sie.

»Prekäre Lebenslage«

Sybille Fenzel vom Verein Mädchentreff, der sich um Mädchen im Alter von 6 bis 14 Jahren im Stadtteil Sankt Leonhard kümmert, hat mit vielen Familien zu tun, deren Lebenslage durch Arbeitslosigkeit oder Scheidung »oft prekär« ist. Einen Ausweg bieten ihrer Ansicht nach bessere Bildungschancen in der Schule, außerschulisch, aber auch in der Familie. Mehr Horte, mehr Hausaufgabenbetreuung, aber auch zum Beispiel mehr Möglichkeiten, das Angebot von Vereinen oder Kirchengemeinden zu nutzen, gehören dazu. Für sie gibt es dafür auch in Nürnberg einen großen Nachholbedarf. Wie notwendig Verbesserungen sind, und welche Bedeutung die soziale Herkunft spielt, zeigt die Statistik. In Sankt Leonhard gehen etwa 80 Prozent der Kinder nach der Grundschule in die Hauptschule, in Erlenstegen dagegen gehen 80 Prozent der Kinder auf ein Gymnasium.

Helmut Herz, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im Kreisverband Nürnberg, hält es für wichtig, etwas dafür zu tun, dass Kinder nicht zwangsläufig ihren Eltern in die Armut folgen müssen, »unabhängig davon, ob die Eltern etwas für ihre Situation können oder nicht«. Da müsse es eine Zäsur geben. »Kinder dürfen nicht für ihre Eltern haften.« Schlüssel dazu ist für ihn ebenfalls die Möglichkeit von Kindern aus ärmeren Schichten, auch an außerschulischen Bildungsangeboten teilhaben zu können. Kinder aus ärmeren Milieus haben einen »geringeren Aktionsradius um ihr häusliches Umfeld«. Sie könnten zum Beispiel weniger Freunde einladen, seltener ins Kino, oder nicht so oft an Ausflügen teilnehmen. Mitunter sei schon ein warmes Mittagessen ein Problem. Aus all dem entstünden Defizite, die ausgeglichen werden müssen. »Solchen Kindern und Jugendlichen muss man Möglichkeiten eröffnen, die sie zu Hause nicht haben.« Eltern dürften dabei nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden, die Gesellschaft könne aber etwas tun, um die Erziehungskompetenz der Eltern zu erweitern. Für die Arbeiterwohlfahrt ist es dabei wichtig, auf die Eltern zuzugehen. »Wir warten nicht, bis sie zu uns kommen, das wäre eine zu große Barriere.«

Michael Kasperowitsch